Tastwahrnehmungen und Temperaturwahrnehmungen

Tastwahrnehmungen und Temperaturwahrnehmungen
Tastwahrnehmungen und Temperaturwahrnehmungen
 
Die Tastleistungen der Haut sind bewundernswert wegen der Reichhaltigkeit der Sinneserfahrungen und ihrer großen Empfindlichkeit. Tastend erfahren wir den Ort und die Form von Gegenständen, ihre Oberflächenbeschaffenheit, ob sie glatt, rau, klebrig, nass, hart, elastisch, formbar, schwer oder leicht sind, und aus welchem Material sie bestehen. Erfahrung erhöht die Erkennungssicherheit. Der Sammler und Kenner will Porzellan nicht nur anschauen, er muss es betasten, um Original von Fälschung sicher zu unterscheiden. Bei Perlen und Schmuck prüft der Fachmann mit den Zähnen, wie sie auf Druck reagieren. Was erfahrene Ärzte am Körper von Patienten tastend wahrnehmen, grenzt ans Wunderbare, ebenso die Schnelligkeit, mit der geübte Personen Blindenschrift lesen.
 
 Formwahrnehmungen durch Tasten
 
Wenn man ein Stückchen Papier von der Größe einer Briefmarke auf den Handrücken legt, spürt man zuerst eine Berührung, die aber bald abklingt. Oft tritt dabei eine leichte Kaltempfindung auf, die die Berührungsempfindung überdauert. Noch eindrucksvoller fällt eine Wahrnehmung in Einzelempfindungen auseinander, wenn man beim Betasten eines Gegenstandes die Tastbewegung anhält. Was gerade noch als Form und Material des Objektes zusammenhängend erkennbar war, löst sich in Einzelempfindungen auf. Sobald man mit den Tastbewegungen fortfährt, kehrt der Gegenstand wieder in die Wahrnehmung zurück. Oft genügt es schon, die Aufmerksamkeit auf eine verschwundene Empfindung zu richten, um sie wieder zu beleben. So spürt man die Kleider am eigenen Leib, sobald man auf sie achtet. Das wird noch deutlicher, wenn man sich auch noch bewegt. Aufmerksamkeit und Erwartung entscheiden oft darüber, ob ein Tastreiz bewusst wird und wie man ihn empfindet. Das merkt jeder, der unvermutet etwas Feuchtes berührt oder auf etwas Weiches tritt.
 
Für viele Beobachtungen dieser Art gibt es neurobiologische Erklärungen. So klingen nicht nur die Empfindungen mit der Zeit ab, auch die Sinneszellen adaptieren schnell oder langsam. Dass die bloße Erwartung eines Reizes physiologische Folgen hat, wurde besonders schön mit der Radioxenonmethode nachgewiesen. Eine Berührung der Haut löst in den zugehörigen Feldern des Großhirns Erregungen aus, die zur Freisetzung des Botenstoffes Stickoxid, genauer Stickstoffmonoxid (NO) in dem aktiven Hirngewebe führt. Das Stickoxid sorgt für eine Erweiterung der Blutgefäße, sodass das erregte Hirngebiet stärker durchblutet wird. Vor Beginn des Experimentes wird der Versuchsperson eine wässrige Lösung des radioaktiven Isotops 133Xe des Edelgases Xenon ins Blut eingespritzt. In das erregte Hirngewebe gelangt mehr Blut und daher auch mehr radioaktives Xenon, dessen Radioaktivität mit Geigerzählern am Kopf von außen gemessen werden kann. Bei diesem Experiment reichte es bereits aus, die Berührung einer Körperstelle anzukündigen, um eine lokale Erregung in der Großhirnrinde auszulösen und die Durchblutung dort zu steigern.
 
Wir nehmen beim Tasten die Form der Gegenstände als Ganzes wahr, obwohl die Erregungssignale zeitlich nacheinander auftreten. Die wahrgenommene Form ist das Ergebnis der Verarbeitungsvorgänge. Manchmal spürt man etwas, was man gar nicht berührt, wie die Spitze eines Schraubenziehers oder einer Nadel. Eine Berührung der Haare wird dort wahrgenommen, wo sich die leblosen Haare befinden, und nicht am Haarbalg in der Haut wo der Reiz eigentlich in Erregung umgewandelt wird. Man kann sogar etwas an Orten spüren, zu denen nicht einmal indirekter Kontakt besteht. Georg von Békésy reizte zwei benachbarte Finger mit Vibratoren. Die Reize erreichten die beiden Finger mit einer Verzögerung von weniger als einer Millisekunde. Bei Veränderungen dieser Zeitdifferenz entstand der Eindruck, der Reizort wandere von einem Finger durch den leeren Raum zum anderen. Diese Wahrnehmungstäuschung zeigt etwas sehr Wichtiges: Tasten führt zur Wahrnehmung räumlich zusammenhängender Gebilde und nicht zu einer Sammlung von im Raum verteilten Reizorten. Das Gehirn vervollständigt die Form.
 
Ohne das Gehirn können wir auch nicht zwischen aktivem Tasten und passivem Berührtwerden unterscheiden. So kann uns zwar jemand an der Fußsohle kitzeln, wir uns selber aber nicht, obwohl der Reiz und die gereizten Rezeptoren dieselben sind. Im 19. Jahrhundert hatten Forscher die Vorstellung, dass die eigene Aktivität eine notwendige Voraussetzung für Tastwahrnehmungen sei. Sie gaben beispielsweise einem Menschen bei geschlossenen Augen einfache Gegenstände in die Hand, einen Kamm, einen Nagel oder ein Taschentuch, die er betastete und sofort erkannte.
 
Die Theorie wurde eingeschränkt, als man herausfand, dass aktive und passive Reizung der Haut unter bestimmten Bedingungen zum selben Ergebnis führt. Versuchspersonen betasteten Reliefs von Buchstaben, indem sie die Fingerbeere darüber gleiten ließen. Wenn der Finger festgehalten wurde und die Buchstaben unter sonst gleichen Bedingungen unter der Fingerbeere vorbeiwanderten, wurden sie erstaunlicherweise genauso gut erkannt. In dieser Versuchsanordnung ist aktives Tasten und passives Berührtwerden für die Wahrnehmung gleichwertig. Dieses Ergebnis eröffnet neue fruchtbare Möglichkeiten für die Aufklärung der Formwahrnehmung beim Tasten.
 
Die verschiedenen Sinneszellentypen in der Haut, die Merkel-Tastscheiben, die Meißner- und die Pacini-Körperchen, reagieren ganz unterschiedlich auf eine Berührung. Das ist das Ergebnis eines Versuchs, bei dem unter der Fingerbeere eines Affen Buchstabenreliefs durchgezogen wurden. Von einer der 400 Nervenfasern, welche die Fingerbeere mit dem Rückenmark verbinden, wurden währenddessen die Aktionspotenziale abgeleitet. Um einen Eindruck zu gewinnen, was viele benachbarte Fasern melden, wurde das Buchstabenrelief 50-mal unter dem Finger vorbeibewegt und jedes Mal um 0,2 mm nach oben verschoben. So meldet die einzelne Faser in 50 Wiederholungen dasjenige nacheinander, was 50 gleichartige Fasern normalerweise auf einmal melden, wenn ihre rezeptive Felder auf der Fingerkuppe im Abstand von 0,2 mm nebeneinander liegen. Die Darstellung verdeutlicht, dass die Merkel-Tastscheiben die Information aus dem betasteten Relief erfassen können, während bei den anderen Sinneszellenarten die Buchstaben nicht so deutlich herauskommen.
 
Bei Nervenzellen der somatosensorischen Großhirnrinde ist die Aufzeichnung noch unübersichtlicher. Ihre Aufgabe ist nicht die räumliche Wiedergabe des Musters. Sie bilden das Muster nicht ab, sondern erzeugen Aussagen über das Muster. Wie die vielen Zellen dann zusammenhängende Wahrnehmungen hervorbringen, ist unklar.
 
Wenn man die bekannten geometrisch-optischen Täuschungen als Relief herstellt, kann man die Täuschungen auch tastend wahrnehmen. Vielleicht gibt es für die Formerkennung beim Sehen und Tasten eine gemeinsame Verarbeitungsstrecke im Gehirn. Die geometrischen Wahrnehmungstäuschungen sind sehr wahrscheinlich an bestimmte Verarbeitungswege des Gehirns gebunden. So sieht bei der Tichener-Täuschung der mittlere Ring kleiner aus, wenn die äußeren groß sind und umgekehrt. Der Tastsinn meldet dasselbe, wenn man die Kreise durch Plastikscheibchen ersetzt und mit den Fingern bei geschlossenen Augen darüber streicht. Ein Mensch, der mit offenen Augen nach den mittleren Scheibchen greift, öffnet aber seine Hand so, als wüsste diese nichts von der Größentäuschung. Das zeigte sich, als der Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger beim Greifen gemessen wurde. Die Öffnung der Hand entsprach der wahren Größe der mittleren Scheibchen, und nicht der Täuschung. Die Bahnen, die im Gehirn zum Sehen und Tasten führen, melden die Täuschung, die Bahnen, die das Bewegungsprogramm für die Hand ausarbeiten, dagegen nicht.
 
 Temperatur- und Materialerkennung beim Tasten
 
Die Temperatursinneszellen haben freie Nervenendigungen. Man unterscheidet Warm- und Kaltsinneszellen, weil die einen auf Temperaturerhöhung und die anderen auf Temperatursenkung mit Aktionspotenzialen reagieren. Warm- und Kaltwahrnehmungen treten in zweierlei Art auf. Wir merken, ob uns kalt oder warm ist, aber wir können auch feststellen, ob es kalt oder warm ist. Die Wahrnehmung bezieht sich im ersten Fall auf unsere eigene Befindlichkeit. Im zweiten Fall sagen wir etwas über die umgebende Luft oder das Wasser, über Gegenstände, die wir berühren, oder die wir an ihrer Wärmestrahlung bemerken. Im Folgenden soll nur von der zweiten Art der Temperaturwahrnehmungen die Rede sein, also nicht von Temperaturregulation, vom Frieren und Schwitzen und auch nicht von der eigenen subjektiven Temperaturbefindlichkeit. Es geht um Wahrnehmungen beim Tasten.
 
In manchen Situationen ist es sehr wichtig, die Temperatur genau feststellen zu können. Mütter prüfen die Temperatur des Badewassers oder der Milchflasche für die Säuglinge mit der Hand. Warme und kalte Hände beeinflussen den Eindruck, den wir beim Händeschütteln von unseren Mitmenschen gewinnen. Es ist nicht möglich zu sagen, wie genau die Temperatur mit der Hand zu ertasten ist, weil die Empfindlichkeit von der gereizten Körperstelle, der Größe des gereizten Hautareals und der Schnelligkeit der Temperaturänderung abhängt. Man kann die Temperatur durch Betasten auf ungefähr 1 ºC genau bestimmen, wenn die Bedingungen günstig sind. Das ist erstaunlich, weil die eigene Hauttemperatur um mehr als 10 ºC schwanken kann. Wenn man über eine Hand kaltes, über die andere warmes Wasser laufen lässt und dann beide Hände abtrocknet, hat man nach kurzer Adaptationszeit keine Temperaturempfindungen, obwohl die warme Hand rot und die kalte blass ist, es sei denn, man bringt die Hände miteinander in Kontakt. Dann fühlt man sofort, dass sie verschieden warm sind. Wenn man aber mit der roten und der blassen Hand einen warmen oder einen kalten Gegenstand betastet, melden beide Hände ungefähr dieselbe Temperatur. Die Temperatur wird also unter geeigneten Bedingungen unabhängig von der Eigentemperatur wahrgenommen.
 
Diese einfache Beobachtung ist erstaunlich, weil sie scheinbar dem berühmten Dreischalenversuch widerspricht. Der an das heiße Wasser adaptierten Hand erscheint das mittlere Bad kalt, der kaltadaptierten Hand dagegen warm zu sein. Die nahe liegende Folgerung aus diesem Experiment lautet: Menschliche Temperaturwahrnehmungen sind unzuverlässig. Sie hängen von der Eigentemperatur ab. Die Lösung des Widerspruchs brachten sehr genaue psychophysische Messungen und ein neuartiges Konzept über die Doppelkompetenz des Temperatursinnes zur Erkennung der Temperatur und des Materials beim Tasten.
 
Dazu eine kleine Vorüberlegung: Die Umgebung von Menschen und Tieren befindet sich unter natürlichen Bedingungen überwiegend im thermischen Gleichgewicht, das heißt alle Gegenstände haben ungefähr dieselbe Temperatur. Lediglich verdunstendes Wasser, die Sonneneinstrahlung und natürlich die Körperwärme sorgen für abweichende Temperaturen. Über große Temperaturunterschiede zwischen der eigenen Haut und der Umgebung müssen wir zuverlässig informiert sein, um mögliche Verbrennungen oder Unterkühlungen zu vermeiden und um energetische Kosten für die Temperaturregulation zu vermeiden. Die kleinen Unterschiede sind dagegen weder nützlich noch schädlich und außerdem uninteressant, weil ja von vornherein feststeht, dass die meisten Gegenstände der Umgebung dieselbe Temperatur haben. Trotzdem sind Menschen für die kleinen Unterschiede besonders empfindlich, da es für den Temperatursinn noch eine zusätzliche Wahrnehmungsaufgabe gibt, für die eine große Empfindlichkeit für kleine Änderungen der Hauttemperatur vorteilhaft ist.
 
Mithilfe des Temperatursinns können wir beim Tasten zwischen verschiedenen Materialien unterscheiden. Berühren wir Metall, fließt aus unserem warmblütigen Körper durch die Haut mehr Wärme ab als bei Holz, auch wenn beide Materialien dieselbe Temperatur haben. Die Haut wird unterschiedlich schnell kälter. Da wir in den Luftraum mehr Wärme abgeben als in das Styropor, das wir berühren, wirkt Styropor warm. Die Hauttemperatur fällt und steigt also je nach den physikalischen Eigenschaften der Materialien, mit denen wir Kontakt haben. Die Änderung der Hauttemperatur beim Tasten ist eine zusätzliche Informationsquelle, die der Materialerkennung dient. Die Doppelkompetenz des Temperatursinns für die Wahrnehmung von Temperatur und Material hat ihren Preis. Sie führt zu einer Sinnestäuschung wie im Dreischalenversuch. Der erweiterte Dreischalenversuch mit den variablen Temperaturen des Prüfbades in der Mitte löst den Widerspruch zwischen den zuverlässigen Temperaturwahrnehmungen und der Täuschung. Die großen biologisch bedeutsamen Temperaturunterschiede werden richtig wahrgenommen, die kleinen dagegen überbewertet. Die große Empfindlichkeit für kleine Abweichungen der Hauttemperatur ist Voraussetzung für die gut ausgebildete Fähigkeit, beim Tasten zwischen verschiedenen Materialien zu unterscheiden.
 
Prof. Dr. Christoph von Campenhausen, Mainz
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Somatosensorik: Wahrnehmung durch Sinneszellen der Haut und des Körperinnern

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Нужно сделать НИР?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Somatosensorik: Wahrnehmung durch Sinneszellen der Haut und des Körperinnern —   Somatosensorik heißt wörtlich übersetzt Körperfühligkeit. Der Name passt gut zu den Sinneszellen in den Eingeweiden, Gelenken und für die Temperatur und Schmerzsinneszellen, soweit sie uns Zustände des eigenen Körpers melden. Zur Somatosensorik …   Universal-Lexikon

  • Tastsinn — taktile Wahrnehmung; Haptik * * * Tạst|sinn 〈m. 1; unz.〉 Fähigkeit zu Tastempfindungen; Sy Gefühlssinn * * * Tạst|sinn, der <o. Pl.>: Fähigkeit von Lebewesen, mithilfe bestimmter Organe Berührungen wahrzunehmen. * * * I Tastsinn,   …   Universal-Lexikon

  • Temperatursinn — Tem|pe|ra|tur|sinn 〈m. 1; unz.〉 Fähigkeit, Temperaturunterschiede wahrzunehmen; Sy Wärmesinn * * * I Temperatur|sinn,   Wärmesinn, Thẹrmo|rezeption, die Fähigkeit von Tieren und dem Menschen, mit besonderen Temperatursinnesorganen (The …   Universal-Lexikon

  • Tastsinnesorgane — Tastsinnes|organe,   Tast|organe, Fühl|organe, Tạngorezeptoren, bei Tieren und beim Menschen (als Mechanorezeptoren) Sinnesorgane, die mechanische Einwirkungen auf den Körper in Form von Berührungsempfindungen (Tastempfindungen) registrieren;… …   Universal-Lexikon

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”